Warum der Premier und die CSV/DP-Regierung ihre ablehnende Haltung zur Bürgerbeteiligung überdenken sollten
Im Rahmen meiner Orientierungsdebatte zur Bürgerbeteiligung vor einem Jahr verständigte das Parlament sich in einer Motion fast einstimmig darauf, einen ständigen Bürgerrat einzurichten[1]. Es handelte sich um eine logische Schlussfolgerung nach den positiven Erfahrungen des Biergerkommitee und des Klima-Biergerrot sowie dem wachsenden demokratischen Defizit und den großen sozialen und ökologischen Herausforderungen.
Völlig unverständlich ist daher, dass der Premier Luc Frieden dieser Idee rezent eine klare Absage verpasst hat[2]. Die DP und CSV verspielen jegliche Glaubwürdigkeit, wenn sie sich jetzt, ein Jahr nach dem Votum der Motion im Parlament, gegen die institutionalisierte Bürgerbeteiligung in Luxemburg aussprechen. Handelte es sich also nur um Lippenbekenntnisse, die jetzt nach den Wahlen nichts mehr wert sind?
Unsere Demokratie durch mehr Beteiligung stärken
Bei den beiden letzten Wahlen entschied wieder mal eine Minderheit über unsere Zukunft: lediglich 43% der Bevölkerung hatten das Wahlrecht bei den Kammerwahlen. Bei den Kommunalwahlen waren es zum Beispiel in Luxemburg-Stadt nur 33%.
Es ist offensichtlich, dass die Sorgen und Probleme der Nicht-Wähler:innen von der Politik weniger prioritär behandelt werden als jene der Wähler:innen. Dies wirkt sich negativ auf unser Zusammenleben aus und fördert Politikverdrossenheit seitens jener, die nicht mitbestimmen können, obwohl sie teilweise seit Jahrzehnten in Luxemburg wohnen, arbeiten und maßgeblich zur Entwicklung des Landes beitragen.
Wenn Staat und Politik das Vertrauen der Bevölkerung nicht weiter verlieren möchten, führt kein Weg daran vorbei, unsere Demokratie zu stärken und aktiv dafür zu sorgen, dass nicht nur eine Minderheit entscheidet.
Gute Ansätze der letzten Jahre weiterentwickeln
In den letzten Jahren fanden in Luxemburg zwei umfassende partizipative Prozesse statt: Das Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050 befasste sich mit der Frage, wie Luxemburg sein Territorium organisieren soll, um 2050 klimaneutral zu sein. Ihre zentralen Forderungen, dass der Flächenverbrauch gebremst, die Verdichtung der Städte gefördert und die Fragmentierung der Landschaft gestoppt werden muss, fanden ihren Niederschlag in der Neuauflage des Landesplanungsprogramms. Auch der Klima-Biergerrot forderte ambitiösere und umgehende Klimaschutzmaßnahmen.
Die Universität Luxemburg hat beide Initiativen detailliert analysiert und diese in den Abschlussberichten positiv bewertet sowie die Wichtigkeit ihrer Weiterentwicklung hervorgehoben[3]. Aufbauend auf diesen ersten Erfahrungen haben die Forscher:innen konstruktive Verbesserungsvorschläge gemacht, um künftige Bürgerversammlungen noch inklusiver und effektiver zu gestalten.
Nationalen Bürgerrat schaffen
Weltweit gibt es Unmengen an verschiedenen Bürgerräten: lokal, regional, national, zeitlich begrenzt, ständig, spezifisch oder themenübergreifend. Wie bereits vor drei Jahren in meinem Bericht zum Staatshaushalt vorgeschlagen, können wir nicht einfach ein bestehendes Modell aus dem Ausland übernehmen. Luxemburg sollte ein eigenes, den nationalen Gegebenheiten angepasstes, Bürgerrat-Modell in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftler:innen sowie den Expert:innen und Bürger:innen des Biergerkommitee, des Klima-Biergerrot und aus anderen Beteiligungsprozessen entwickeln. Ein hiesiger institutionalisierter Bürgerrat sollte autonom funktionieren, Aufträge des Parlamentes und der Regierung aufnehmen sowie auf Eigeninitiative arbeiten können, repräsentativ sein, eine klare Methodologie haben und laufend erneuert werden.
In den letzten Jahren wurden in Luxemburg erste gute und wichtige Erfahrungen sowie Expertise im Bereich der Bürgerbeteiligung aufgebaut. Sei es von Bürger:innen, die teilnahmen, Expert:innen, die die Prozesse betreuten, der Universität, die sie kritisch begleitete, oder der Politik, die im guten Dialog mit den Räten stand und ihre Vorschläge aufnahm. Wenn Luxemburg diesen Weg allerdings jetzt nicht weitergeht, verpuffen diese Dynamik und das Wissen, mit negativen Auswirkungen auf das Vertrauen in die Politik.
Friedens veraltetes Demokratieverständnis
Nachdem sich eine große Mehrheit des Parlaments letztes Jahr deutlich für mehr Bürgerbeteiligung ausgesprochen hat, hätte man erwarten können, dass der CSV-DP Koalitionsvertrag konkrete Maßnahmen beinhaltet, um dieses Vorhaben weiterzuführen. Jedoch suchte man vergeblich danach. In seiner Antwort auf eine parlamentarische Frage hat Premierminister Luc Frieden zudem der Schaffung eines permanenten Bürgerrates in Luxemburg eine klare Absage verpasst. Dies offenbart nicht nur sein veraltetes Demokratieverständnis, sondern ist auch ein Schlag ins Gesicht für die vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren in Beteiligungsprozessen engagiert oder sie unterstützt haben.
Wie steht es um die anderen Mehrheitspolitiker:innen, die sich bei vielen Gelegenheiten lautstark für mehr Beteiligung aussprachen? Und wie ernst meinte es der Präsident des Parlamentes Claude Wiseler wirklich, als er sich bei der rezenten Vorstellung der Schlussfolgerungen der Universität zu den beiden Bürgerräten öffentlich für die Weiterentwicklung solcher partizipativen Prozesse in Luxemburg aussprach?
Mehr Partizipation wagen
Bürgerbeteiligung ist keine Bedrohung, sondern im Gegenteil eine wirksame Möglichkeit und große Chance, das wachsende demokratische Defizit in Luxemburg zu überwinden, das Zusammenleben zu fördern und als Gesellschaft schneller und besser auf Herausforderungen zu reagieren. Wir haben in den letzten Jahren gute Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen in Luxemburg gesammelt. Auf diese gilt es nun aufzubauen, statt sie abzuwürgen.
François Benoy ist Gemeinderat in Luxemburg-Stadt. Als Abgeordneter von déi gréng initiierte er letztes Jahr eine Orientierungsdebatte über Bürgerbeteiligung in der Chamber.
Erstveröffentlichung im Luxemburger Wort (20.04.24)